taz September 10, 1998

Total Fictional LiePress

Echt Dada

ERS mit »Total Fictional Lie« in den Sophiensälen

von Eva Behrendt

Ein Manager mit dem Augenbrauenschmuck unseres Finanzministers, ein bis zum Wahnsinn repetierter Truthahn-Tanz, eine stockende Presseansprache Paul Ankas – mit dem Kopf in der Kiste und in der Luft rudernden Füßen gehalten; der scheiternde Verkauf einer überarbeiteten Bibelausgabe und ein Requisitarium, das vor allem aus Löffelbiscuits und drei Stühlen besteht: Wir schreiben das Jahr 1998, und wir sehen die vielleicht letzten Adepten von Dada.

Mit “Total Fictional Lie” präsentierte der Elevator Repair Service eine ganz echte Weltpremiere, genauer: die Aufführung eines Auftragswerkes der Berliner Festwochen im Rahmen von “Next Generation”. Genau wie “Cab Legs” – ein Repertoirestück, das die New Yorker Performer bereits vergangene Woche in den Sophiensaelen zeigten – entbehrt auch “Total Fictional Lie” einer durchgängigen Handlungslogik und verknüpft, was garantiert nicht zusammengehört, zu einem Reigen absurder Miniaturen. Anscheinend Dilettantisches und Halbgeprobtes, angereichert von Kunstpausen, in denen ein ganz unamerikanischer Ton von Langeweile angeschlagen wird, rekurriert auf vertraute avantgardistische Konzepte. Doch im Gegensatz zu “Cab Legs” werden hier die gesprochenen Worte auf ein Minimum reduziert und statt dessen zierliche, Alltags- oder Disco-Gesten zitierende Choreographien um den Schlagersänger Paul Anka in den Vordergrund gerückt. Ob im Sitzen oder in gelockerter Aerobic-Formation – wenn das siebenköpfige Ensemble unter der Regie von John Collins und Steve Bodow zur körperlichen Ertüchtigung ausholt, ist ihm stets ein kurioser Widerspruch ins Gesicht geschrieben: verbissene Ernsthaftigkeit beim “Überraschungskisten-Tanz”, flirtives Strahlen beim “Tanz der Gefangenen”.

Den Mangel an Sinnträchtigkeit relativiert – leider – ein aufklärerischer Handzettel zur Vorstellung: in der Phase des concept-raising habe sich die Company Dokumentarfilme aus den 50er Jahren zu Gemüte geführt, von denen einige nun zum flottierenden Sujet der Show destilliert wurden. Demnach sind also weder Texte noch Gestik “fictional”, sondern basieren auf “authentischer” US-Tristesse. Einen ganzen Parcours gesellschaftlicher Säulen des modernen Amerika – strategischer Aufbau von Popstars, Todesstrafendiskurs, Religiosität und Handlungsreisentum – recyceln ERS zu ironischer Beinahe-Bedeutungslosigkeit. Kultursoziologie light? Einen Sitzplatz weiter bekannte jemand, er habe die gesamten 50 Minuten an John Travolta gedacht. Was ja auch sehr schön sein kann. Und ein guter Auftakt ist für eine lange Nacht.